Die neue queer-jüdische Bewegung aus Berlin

Interview

Der Verein Keshet Deutschland e.V. wurde 2018 in Berlin gegründet, um queere jüdische Lebensweisen sichtbarer zu machen, sich für LGBTIQ*-Rechte in den jüdischen Gemeinden einzusetzen und queere jüdische Menschen zu empowern. Im Interview gibt Mitgründer Prof. Dr. Leo Schapiro Einblicke in seine Arbeit.

In Deutschland leben 96.195 Mitglieder der jüdischen Gemeinden. Der Verein Keshet Deutschland e.V. wurde 2018 in Berlin gegründet, leistet seither Pionierarbeit und setzt sich für die Rechte von LGBTIQ*-Jüd*Innen in Deutschland ein. Veranstaltet werden Shabbatot, Seminare, Shiurim und Veranstaltungen zu den Feiertagen. 

Ich habe an einem von Keshet organisierten Pride-Schabbat in einer Synagoge teilgenommen, die in der Gemeinschaft für ihre orthodoxe Haltung bekannt ist. Erstaunlicherweise fand ich mich in einer Synagoge wieder, die voller Regenbogenfahnen mit Davidsternen war und mit über 70 Leuten und einem tollen Buffet beste Voraussetzungen für eine ausgelassene Atmosphäre bot.

Was es heißt, sich für queere Lebensweisen im religiösen Umfeld einzusetzen und welche Unterschiede es zum Islam und Christentum in der Hinsicht gibt, erklärt uns Prof. Dr. Leo Schapiro, Mitgründer von Keshet Deutschland e.V.. 

Tatjana Cuk: Wie seid ihr auf die Idee gekommen Keshet zu gründen?

Prof. Dr. Leo Schapiro: Vor der Gründung von Keshet existierte bis auf wenige kleine Reformgemeinden keine Organisation, die LGBTIQ*-Interessen vertreten hat. Es hatte zwar in den 1990er Jahren eine Organisation namens Yachad gegeben. Diese war aber zum Zeitpunkt der Gründung von Keshet bereits seit ca. 15 Jahren nicht mehr aktiv. Vor unserer Gründung gab es auch keinerlei Angebote von bestehenden Organisationen für queere Jüdinnen und Juden. In den Gemeinden herrschte in Bezug auf queere Identitäten ein starkes Tabu, während z.B. in den USA, England oder Australien eine offene queer-jüdische Kultur gelebt wurde. 

Zudem stellte ich fest, dass ich kaum jüdische queere Personen kannte, obwohl ich in der jüdischen Gemeinde sehr gut vernetzt war. Die wenigen queeren Jüdinnen und Juden, die ich traf, berichteten alle dieselbe Geschichte: Entweder waren sie in ihren Familien ungeoutet und lebten ihre queere Identität heimlich aus oder aber sie verließen die Gemeinden. Diese Situation war unerträglich. Vor diesem Hintergrund reifte in mir die Idee, einen queer-jüdischen Verein zu gründen.

Dann lernte ich zufälligerweise Dalia kennen, die damals als Präsidentin der jüdischen Studierendenunion progressiv bereits versucht hatte, LGBTIQ*-Themen anzusprechen. Kurz darauf trafen wir Monty auf einem Podium zu queeren Themen. Zu dritt beschlossen wir, dass wir Keshet gründen müssen, um LGBTIQ*-Leben nicht nur sichtbar, sondern auch um es zu einem selbstverständlichen Teil in den jüdischen Gemeinden zu machen. Wir hatten das Ziel, queere Jüdinnen und Juden einen Safe Space zu bieten und sie in ihrer queer-jüdischen Identität zu empowern.

Zugleich war uns von Anfang an wichtig, keine Parallelstruktur zu den bestehenden Institutionen, wie z.B. dem Zentralrat der Juden, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und den Gemeinden zu bilden, sondern mit ihnen Kooperationen einzugehen, um queere Themen in die bestehenden Institutionen und Gemeinden hineinzutragen. Wir hatten das Ziel, dass sich niemand mehr zwischen seiner queeren und jüdischen Identität entscheiden muss.

Team von Keshet Deutschland e.V.
Team von Keshet Deutschland e.V.

Bist du religiös aufgewachsen?

Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Meine Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie legten zwar viel Wert darauf, dass wir als Familie an den Feiertagen zusammensaßen und die für den Feiertag passenden Speisen essen. Es wurde aber gar keine Religion gelehrt oder ausgeübt. Alles, was ich über das Judentum weiß, einschließlich der Gebete, habe ich im jüdischen Religionsunterricht, im Jugendzentrum und auf den jüdischen Jugendfahrten (Machanot) gelernt. 

Wie ist grundsätzlich die Haltung der jüdischen Gemeinde zum Thema Homosexualität?

Die Gemeinden in Deutschland sind anders als z.B. in den USA, als Einheitsgemeinden aufgebaut. Das bedeutet, dass abgesehen von den großen Städten wie z.B. Berlin in den meisten Städten nur eine Synagoge existiert. Diese bietet dann in der Regel nur einen orthodoxen Ritus an. In diesen orthodoxen Synagogen hat queeres Judentum überhaupt keinen Platz.

Wir wissen auch von vielen Fällen, in denen Rabbiner queeres Leben ganz öffentlich kritisiert bzw. behauptet haben, dass es nach der Tora verboten sei. Aber auch wenn queeres Leben nicht ausdrücklich verurteilt wird, so wird jedenfalls ausschließlich ein heteronormatives Lebensmodell als das einzig wahre Ziel im Leben gepredigt. 

Der einzige Raum, in dem eine positive Haltung gegenüber dem queeren Judentum besteht, sind die Reformgemeinden. Diese unterliegen teilweise dem Zentralrat, überwiegend aber der Union progressiver Juden (UPJ). In den Reformgemeinden war die offizielle Haltung immer queer-friendly. Allerdings hat die UPJ nur ca. 5.000 Mitglieder, während die Zentralratsgemeinden über 100.000 Mitglieder haben. Die Reformbewegung ist in Deutschland bislang sehr marginal. Der in der Öffentlichkeit wahrgenommene “Mainstream” ist daher der Zentralrat. 

Wie bereits beschrieben existierte vor unserer Gründung von Seiten der Institutionen keinerlei Angebot für queere Gemeindemitglieder. Weder der Zentralrat, die ZWST noch die Gemeinden boten Seminare oder Schulungen an. Sie leisteten auch keine Sensibilisierungs- oder Aufklärungsarbeit. Daher herrschte bis vor kurzem in den Gemeinden ein unerträgliches Tabu, während die säkulare Gesellschaft queere Lebensmodelle immer stärker als selbstverständlich einschloss.  

Nach unserer Gründung ist es uns gelungen, den Zentralrat davon zu überzeugen, dass queeres jüdisches Leben viel stärker gefördert werden muss. Der Zentralrat war dann erfreulicherweise auch dazu bereit, unsere Veranstaltungen über Mikroförderung finanziell zu unterstützen. Das Thema LGBTIQ* wurde dieses Jahr sogar in das Projekt Schalom Alejkum, welches vom Zentralrat der Juden organisiert wird, mit aufgenommen. Bei dem Projekt geht es um den jüdisch-muslimischen Dialog und zum ersten Mal stand das Thema LGBTQI auf der Agenda. 

Zudem fand durch eine Kooperation zwischen Keshet und der ZWST im letzten November zum ersten Mal ein Seminar mit dem Titel “Unter dem Regenbogen” statt. Das Seminar hatte gezielt LGBTIQ*-Themen zum Gegenstand. Das war fast schon revolutionär.

Zwar fehlt es bislang weiterhin an Projekten für eine interne Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit in der Jüdischen Community, wir sehen aber, dass das Thema durch unsere Arbeit allmählich in das Bewusstsein der Institutionen gelangt. 

Welchen Herausforderungen seid ihr begegnet als ihr angefangen habt?

Wir mussten die Institution davon überzeugen, dass es notwendig ist, queer-jüdische Themen anzusprechen und sich aktiv für eine Inklusion von queeren Jüdinnen und Juden einzusetzen. Vielen war nicht bewusst, wie sehr sich queere Jüdinnen und Juden in den Gemeinden diskriminiert fühlen.

Warum ist es so wichtig, dass Homosexuelle Teil der Glaubensgemeinschaft werden?

Ich würde die Frage eher umgekehrt stellen: Warum nicht?! Queeres Leben ist heutzutage ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Zivilgesellschaft und es gibt aus unserer Sicht überhaupt keinen Grund, warum queere Menschen nicht auch selbstverständlicher Bestandteil, der religiösen Gemeinschaft sein können. 

Wir sind der festen Überzeugung, dass die Annahme, dass queeres Leben im Judentum verboten sei, unzutreffend ist. Es gibt zahlreiche Gelehrte, die bewiesen haben, dass das vermeintliche Verbot von männlicher Homosexualität aus der Thora ausschließlich homosexuelle Praktiken zum Zwecke des Götzendienstes unterbinden will. Die besagte Thorastelle verbietet aber nicht gleichgeschlechtliche Liebe. 

Letztendlich sind wir aber an einem Punkt, an dem wir diese religiöse Diskussion auch gar nicht mehr führen wollen. Nach dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand weiß man, dass queere Identität nicht frei gewählt und nicht veränderbar ist. Vor diesem Hintergrund darf es nicht möglich sein, Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität aus einer Glaubensgemeinschaft auszuschließen – dies würde eine schwere Verletzung ihrer Menschenrechte darstellen. Wenn Gott Menschen queer erschaffen hat, dann liebt er sie auch so. 

Erster Keshet-Schabbat im November 2018

Das Judentum unterscheidet sich von anderen Religionsgemeinschaften u.a. durch seine zwei Strömungen, der orthodoxen und der liberalen. Welche Auswirkung hat das auf eure Arbeit? Sind die Reaktionen auf Keshet unterschiedlich?

Es herrschen nicht nur zwei, sondern mehr Strömungen im Judentum. Naturgemäß sind die Reaktionen auf uns hierdurch unterschiedlich. Durch die bestehende LGBTQ-freundliche Reformbewegung hatten wir jedenfalls von Anfang an einen Ansprechpartner, der unsere Arbeit unterstützt hat. Beispielsweise war die Rabbinerin Gesa Ederberg aus der Synagoge in der Oranienburger Straße sogleich bereit, mit uns einen queeren Shabbat zu feiern.

Das wäre in einer orthodoxen Synagoge nicht möglich gewesen. Allerdings hatten wir bereits das Glück, dass wir im Juli 2019 mit der Fraenkelufer Synagoge anlässlich des Berliner CSD einen Pride-Shabbat veranstaltet haben. Aufgrund der sehr offenen Kultur in dieser Synagoge konnte damit der erste queere Shabbat in einer konservativen Synagoge in Deutschland stattfinden. 

Die liberale Strömung ist ein enormer Vorteil gegenüber anderen Religionsgemeinschaften, die eine Art gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit in sich birgt. Kann man sagen, dass mit der Strömung des liberalen Judentums bereits im 19. Jahrhundert der Grundstein für den queeren Shabbat gelegt wurde?

Ja, natürlich. Das Reformjudentum vertritt die Ansicht, dass an der Tora nicht als Dogma festzuhalten ist, sondern die Tora immer im Lichte der gesellschaftlichen Entwicklungen zu interpretieren ist. Dadurch war es möglich, queeres Leben als Bestandteil des Judentums zu sehen. Dies hat natürlich maßgeblich zur Akzeptanz beigetragen. Hierdurch sind die ersten LGBTIQ*- freundlichen Synagogen in den USA entstanden.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber zu erwähnen, dass es außerhalb von Deutschland inzwischen auch orthodoxe Rabbiner gibt, die sich offen für die Akzeptanz von LGBTIQ*-Personen in der jüdischen Welt einsetzen. Beispielsweise hat der orthodoxe Oberrabbiner in England im letzten Jahr öffentlich eine Diskriminierung von queeren Schüler*innen verurteilt.

Unter seiner Mitarbeit ist zusammen mit Keshet UK ein Buch entstanden, das Richtlinien enthält, wie man mit queeren Schülerinnen und Schülern in jüdischen Schulen umgehen soll. Auch andere amerikanische orthodoxe Rabbiner, wie z.B. Mike Moskowitz, dessen Kind trans* ist, ist ein wichtiger Kämpfer für die queere Bewegung im Judentum geworden. 

Haben sich die Reaktionen auf Keshet im Laufe der Zeit verändert? Wenn ja, wie?

Bei der jungen Generation stieß unsere Gründung von Anfang an auf extrem positive Resonanz. Bei den älteren Generationen und bei einigen Institutionen waren die Reaktionen zunächst eher verhalten. Allerdings gelingt es uns erfreulicherweise durch viele Gespräche und durch viel Präsenz zahlreiche Kooperationen mit jüdischen Organisationen einzugehen. Hierdurch nehmen wir wahr, dass immer mehr Personen die Wichtigkeit eines queer-jüdischen Vereins erkennen.

Wo seht ihr den größten Nachholbedarf?

Erstens muss unbedingt eine stärkere Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in den Gemeinden durchgeführt werden. Wir benötigen Seminare und Schulungen für Gemeindemitglieder und Gemeindemitarbeiter*innen, in denen Vorurteile gegenüber queeren Personen abgebaut werden können. Insbesondere Sozialarbeiter*innen in den Gemeinden sollten Zugang zu Aufklärungsprogrammen erhalten. 

Zweitens müssen LGBTIQ*-Themen viel stärker unter den Kindern und Jugendlichen in den jüdischen Schulen, Jugendzentren und Jugendreisen angesprochen werden, damit die Kinder von Anfang in dem Bewusstsein aufwachsen, dass queeres jüdisches Leben ein ganz selbstverständlicher Teil unserer Gemeinschaft darstellt. 

Drittens sollten queere Familienbilder in den Gemeinden viel sichtbarer gemacht werden. Ebenso sollten sich viel mehr Rabbiner*innen dazu bereit erklären, queere Paare zu trauen.

Schließlich würden wir uns wünschen, dass die Vorstände der Institutionen und Gemeinden sich öffentlich gegen die Diskriminierung und für die Inklusion von queeren Jüdinnen und Juden aussprechen.